Frankfurt/Nauheim, 5. Juni 2025 – Die Deutsche Flugsicherung (DFS) und der Flughafenbetreiber Fraport gestehen faktisch ein Scheitern ihres bisherigen Abflugroutenkonzepts ein. Die sogenannte Südumfliegung – eine 2011 mit Eröffnung der Landebahn Nordwest eingeführte und für den Flughafenausbau als zentral notwendige Süd-Abflugroute bezeichnete Strecke – ist nach Aussage der Verantwortlichen mit dem Ziel des Flughafenausbaus nicht vereinbar. Eine Umverteilung der Starts auf andere Routen ist nun unvermeidlich. Für Nauheim bedeutet dies voraussichtlich eine spürbare Entlastung vom Fluglärm.

Am Dienstag präsentierten DFS und Fraport Vertretern von Landkreisen, Städten und Gemeinden im Rhein-Main-Gebiet ihr „weiterentwickeltes Betriebskonzept“ für den Frankfurter Flughafen. Dabei wurde deutlich: Die Südumfliegung könne in absehbarer Zeit nicht mehr als Hauptabflugstrecke für westwärts startende Flugzeuge dienen. Stattdessen sollen verstärkt die Nordwest-Abflugstrecken genutzt werden, um die angestrebte Kapazität zu erreichen. Die Ankündigung sendet Schockwellen in die Region – noch sind nicht alle Auswirkungen absehbar. Klar ist aber schon heute, dass damit zentrale Annahmen des Planfeststellungsbeschlusses von 2007 hinfällig sind. DFS und Fraport sprechen selbst von „geänderten Rahmenbedingungen“, die „weder vorhersehbar noch beeinflussbar“ gewesen seien. Aus Sicht der vom Fluglärm betroffenen Kommunen kommt dieser Schritt einem Offenbarungseid gleich.
Für den Nauheimer Grünen-Politiker Marco Müller ist die aktuelle Entwicklung keine Überraschung – wohl aber ein handfester Skandal in der Darstellung durch DFS und Fraport. Er verweist darauf, dass die jetzt angeführten „veränderten Rahmenbedingungen“ keineswegs neue Erkenntnisse sind. „Dies ist nicht der Fall“, so Müller in einer ersten Stellungnahme. Tatsächlich liegen die Probleme der Südumfliegung seit Jahren auf dem Tisch: Bereits 2014 hat Müller gemeinsam mit Luftfahrtexperten und ehemaligen Fluglotsen eine umfangreiche Diskurs- und Funktionsanalyse der Route erstellt. Am 23. Juni 2015 sandte er diese Analyse per E-Mail an den Vorstand der Fluglärmkommission (FLK). Darin erörterte er detailliert die technischen Rahmenbedingungen und den Ausbauplan – und wies nach, dass die noch heute nahezu unverändert genutzte Südumfliegung nicht in der Lage ist, den für den Ausbaufall geplanten Flugverkehr aufzunehmen.

Zentrale Erkenntnis der Analyse: Statt der planfestgestellten 98 Prozent aller West-Abflüge, die über die Südumfliegung abgewickelt werden sollten, sind maximal etwa 39 Prozent über diese Route möglich. Mit anderen Worten, die Südumfliegung kann als Hauptabflugstrecke den Ausbaufall nicht stemmen.
„Bei einem Ausbauziel von 126 Flugbewegungen pro Stunde zeigt meine Analyse bereits 2015 klar auf, dass anstelle von 98 Prozent der Flugbewegungen nach Westen nur maximal 39 Prozent möglich wären“, erklärt Müller.
Seine Berechnung von 2014 basierte sogar noch auf optimistischen Annahmen – etwa einem Anflugabstand von 5 Nautischen Meilen – und ohne Berücksichtigung weiterer Einschränkungen durch die Startbahn 18 („Startbahn West“). Beides trifft heute nicht mehr zu. Seit einer Sicherheits-Empfehlung der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) muss ein landendes Flugzeug auf der linken Parallelbahn einen größeren Vorsichtsabstand haben, bevor auf der Centerbahn ein Abflug Richtung Südumfliegung freigegeben wird.

Konkret erhöhte die DFS im Februar 2015 den Mindestabstand zwischen anfliegenden Maschinen von 5 NM auf 6 NM – was die Abflugrate über die Südumfliegung weiter reduziert. Gleichzeitig ist die Kopplung der Südumfliegung mit der Startbahn 18 weiterhin ein limitierender Faktor. Starts von der Centerbahn nach Süden können nicht uneingeschränkt parallel zu Starts von der Startbahn 18 erfolgen. Dieser Zusammenhang sollte in der Planung eigentlich durch technische Maßnahmen (Funkfeuer in Nauheim) entschärft werden, wurde jedoch 2013 gerichtlich als nicht auflösbar festgestellt.
Die Folge all dieser Faktoren: Was Müller 2015 für 126 Flugbewegungen/h berechnet hat, trifft unter heutigen Bedingungen bereits bei etwa 110 Flugbewegungen/h ein. Schon vor diesem Punkt müssen zwangsweise zusätzliche Flugzeuge auf die Nordwest-Route ausweichen, um den Flugbetrieb aufrecht zu halten.
„Die sogenannte Südumfliegung war von Anfang an nur ein Placebo – für den Ausbau angekündigt, aber in Wahrheit nie tragfähig“, erklärt Müller heute. „Dass DFS und Fraport jetzt überrascht tun, ist mehr als dreist. Man hätte den ‚Ausbaufall‘ längst realistisch überprüfen und gegensteuern müssen.“
Müller zeigt sich insbesondere enttäuscht vom Verhalten der Fluglärmkommission. „Skandalös ist, dass ich 2015 den FLK-Vorstand deutlich auf diesen Umstand und mögliche Konsequenzen hingewiesen habe, aber niemals eine Rückmeldung erhalten habe“, kritisiert der Nauheimer Kommunalpolitiker. „Die Fluglärmkommission war und ist für mich eine Farce-Veranstaltung“, so Müller weiter. Das Gremium erfülle nicht den Zweck, zu dem es eingerichtet wurde, sondern vertrete unterm Strich einseitig die Interessen der Luftverkehrsindustrie. Die Ergebnisse der FLK bezeichnet er als „weiße Salbe“ – mit anderen Worten: bloßes Beruhigungsmittel ohne echte Wirkung. Dieses Aussitzen und Ignorieren der Probleme habe nun genau zu der Situation geführt, vor der er vor zehn Jahren gewarnt habe. Müller: „Das Festhalten am Ausbaufall wird zu einer Unwucht führen, deren Auswirkungen im neuen Betriebskonzept noch gar nicht abgebildet sind.“
Bereits 2015 wies Müller auch auf einen politischen Zielkonflikt hin. So steht die maximal genehmigte Ausbaukapazität von 701.000 Flugbewegungen im Jahr seiner Ansicht nach im Widerspruch zu den Lärmschutzzielen des Landes Hessen. Im Koalitionsvertrag 2014 zwischen CDU und Grünen war festgehalten, dass DFS und Aufsichtsbehörden die Umsetzung des damaligen Gerichtsentscheids zur Südumfliegung „im Rahmen des Lärmschutzkonzepts der Planfeststellung“ vornehmen sollen. „Die planfestgestellte Kapazität von 701.000 Flugbewegungen pro Jahr ist aus meiner Sicht nicht mit dem Ziel der Landesregierung zu vereinbaren“, schrieb Müller damals an die FLK. Die Landespolitik habe es jedoch versäumt, die Ausbauplanungen an die Realität anzupassen. Statt frühzeitig eine Begrenzung der Flugbewegungen ins Auge zu fassen, sei weiter an der Illusion festgehalten worden, man könne Wachstum und Lärmschutz gleichzeitig wie geplant erreichen.
Die jetzige Neujustierung der Routen wird voraussichtlich neue Belastungsverteilungen nach sich ziehen. Insbesondere Gemeinden entlang der Nordwest-Abflugstrecken – z.B. Raunheim, Flörsheim und Rüsselsheim, aber auch Bad Homburg – müssen mit mehr Überflügen rechnen. Die Südumfliegung wurde ursprünglich eingeführt, um hochbelastete Gebiete zu entlasten. Die Kehrseite: Seit 2011 litten dadurch nun andere Orte wie Nauheim unter zusätzlichem Fluglärm. Durch die Rückverlagerung der Flüge drohen nun Doppelbelastungen in einigen Städten, die sowohl im Anflug als auch vermehrt im Abflug überflogen werden. So hatte der verstorbene Raunheimer Bürgermeister Thomas Jühe bereits 2015 vor „Horror-Lärm“ gewarnt, sollte seine Stadt „an 365 Tagen“ sowohl An- als auch Abflüge ertragen müssen. Die aktuellen Pläne von DFS/Fraport lassen genau dieses Szenario nun realistischer erscheinen.
Angesichts der neuen Lage fordert Müller, Konsequenzen für den weiteren Flughafenausbau zu ziehen. Zum einen müsse endlich eine „echte“ Lärmbetrachtung des Ausbauszenarios durchgeführt werden – unter realistischen Betriebsbedingungen. „Man kann nicht weiter mit Schönrechnungen arbeiten. Wenn jetzt selbst DFS und Fraport umsteuern, muss die Lärmprognose für den Ausbaufall ehrlich neu aufgerollt werden“, so Müller. Zum anderen sei eine feste Begrenzung der Flugbewegungszahl unumgänglich, um ein gesundes Gleichgewicht zwischen Wachstum und Lebensqualität herzustellen. „Eine Begrenzung auf deutlich unter 600.000 Flugbewegungen im Jahr wäre für die gesamte Region eine Möglichkeit, die Interessen von Lärmgeplagten und Wirtschaft in Einklang zu bringen“, bekräftigt der Nauheimer Grünen-Sprecher. Andernfalls drohe eine unerträgliche Konzentration von Fluglärm auf immer weniger Routen und Zeiten. Die Landespolitik sei nun dazu aufgerufen, endlich Verantwortung zu übernehmen und das Planfeststellungsverfahren einer gründlichen Revision zu unterziehen, statt weiterhin unrealistischen Wachstumszielen hinterherzulaufen.
Müllers Appell an alle betroffenen Kommunen lautet, jetzt gemeinsam Druck zu machen: „Ich kann allen betroffenen Kommunen nur raten, eine realistische Lärmanalyse für den Ausbaufall einzufordern – unter echten Bedingungen – und eine Neubewertung des Flughafenausbaus zu verlangen. Wer heute darüber erschrocken ist, sollte nicht darauf vertrauen, dass es schon nicht noch schlimmer wird. Jetzt muss gehandelt werden!“
Alle politischen und gesellschaftlichen Akteure im Rhein-Main-Gebiet müssten sich endlich ehrlich und transparent mit den Konsequenzen des Flughafenausbaus auseinanderzusetzen. Nur durch eine ehrliche Diskussion könne man den Ausgleich zwischen wirtschaftlichem Interesse und dem Schutz der Lebensqualität langfristig sichern.
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Kontakt für Rückfragen:
Marco Müller, Fraktionssprecher Bündnis 90/Die Grünen Nauheim
Reiherstr. 24, 64569 Nauheim
Tel.: 0177 5847226, E-Mail: marco.mueller@gruene-nauheim.de
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